Halloween
Seit etlichen Jahren schreibe ich zu den Halloween-Feiern unseres Clubs immer einmal eine spezielle Halloween-Geschichte (falls mir eine einfällt, was nicht immer klappt). Diese hier war die erste. Die anderen werden hier nach und nach erscheinen. Viel Spaß damit!
Ein kleiner Spaziergang zu Halloween
Ich hasse Halloween.
Wenn der Oktober seinen Zenit überschritten hat, wenn das Wetter trüber und trüber wird, die Bäume nackt und schwarz dastehen und dichte Regen die Welt hinter einem Schleier von nassem Grau ertrinken
lassen, dann ist eine gute Zeit für Hass aller Art. Da ich aber vollkommen allein lebe, keine Verwandten habe und den Kontakt mit anderen Menschen tunlichst vermeide, muss ich meinen Hass ansammeln
und auf einen Anlass warten, ihn loszuwerden. Das ist Halloween. Eigentlich sollte ich also dankbar sein für dieses Fest.
Aber ich bin nicht dankbar. Ich sitze im Wohnzimmer meines Hauses, das etwas abseits auf einem Hügel liegt und von Bäumen umstanden ist. Sie geben vom späten Frühling bis in den frühen Herbst hinein
eine ausgezeichnete Deckung ab. Jetzt aber, vor dem nahen Winter, lassen ihre laublosen Äste mir freie Sicht auf die umliegenden Häuser und Straßen. Ich sitze im Dunkeln und betrachte die
Obskuritäten, mit denen Familienväter und -mütter ihre Fenster, Veranden und Gärten dekoriert haben: Vogelscheuchen, Kürbisfratzen, Hexen, Fledermäuse, Mumien, Zombies und Gespenster aus allen
möglichen Materialien, von Papier über Gummi bis Ton. Außerdem sinne ich, von stiller Wut erfüllt, darüber nach, warum es hier zu Halloween niemals regnet. Dabei regnet es am 29. Oktober und am 30.
sehr oft, genau wie am 1. und 2. November, beharrlich, dicht, unablässig - aber es regnet niemals an diesem verfluchten 31. Oktober, und jegliches Kindergewürm, in abstoßende bis unerträgliche Masken
gehüllt, kann ungehindert mit Betteleimern von Tür zu Tür ziehen und sein „Süßes oder Saures!” aufsagen.
Aber es verirrt sich keines hierher zu mir - und wenn ich ehrlich zu mir bin, ist auch das einer der Gründe für meinen Hass auf dieses Fest. Der eigentliche? Nein. Ich hoffe doch nicht. Denn ich
hasse zum Beispiel auch die Kürbisse. Kürbisse, ja. Harmlose Früchte? Oh, aber wer das Kind von Eltern ist, die hinter dem Haus in einem riesigen Garten Dutzende und aber Dutzende dieser
orange-gelben Abscheulichkeiten züchten ... Mein Vater und meine Mutter: Ihr Gesundheitsfanatismus grenzte schon ans Obszöne, genährt von einer zerfledderten Schwarte nährte, dem allerheiligsten
„Dr. Bader” von 1887, ein Buch, welches den Kürbis als das Wundermittel schlechthin anpreist, wirksam gegen alle Krankheiten und Gebrechen von Erkältung bis Rheuma: Kürbissuppe, Kürbis
paniert und gebraten, Kürbiskompott, Kürbissaft, Kürbisfußbäder (geschnitzelte Schale in kochend heißem Wasser), Kürbisumschläge, Kürbiseinreibungen und so weiter … wer das seit seinem fünften
Lebensjahr durchgemacht hat, jahrein, jahraus, sommers wie winters, und obendrein damit gedemütigt wurde, die verhassten Früchte zu hegen und zu pflegen, zu begießen, vom Unkraut frei zu halten und
schließlich zu ernten, ganz zu schweigen von den Stunden und aber Stunden im Küchenmief, der einem den Atem nahm, aber doch nicht vollständig, so dass man immer und immer helfen musste beim
Zubereiten all jener Scheußlichkeiten - wer das hinter sich hat, der wird weiß Gott keinen Kürbis mehr schmecken, riechen, ja nicht einmal mehr sehen wollen.
Als ein Jahr nach meinem Vater auch meine Mutter das Zeitliche segnete, begrub ich sie, wie es sich gehört; und dann ging ich vom Friedhof schnurstracks heim, nahm mir nicht einmal die Zeit, meine
Trauerkleidung mit dem Arbeitsoverall zu vertauschen, nein, ich rannte in dem feierlichen schwarzen Anzug in den Garten, riss dort die verfluchten Gewächse mit Stumpf und Stiel aus, entzündete ein
großes Feuer, warf sie hinein und sah voller Freude zu, wie sie verbrannten. Ich hielt sogar meine Nase begierig in den Rauch, sog ihn ein wie die Wohlgerüche des Paradieses - denn hier verbrannten
meine Feinde, und nie wieder würde mich einer von ihnen quälen.
Dann holte ich mir beim Fleischer ein ordentliches Schnitzel, briet es in heißem Fett knusprig und verschlang es mit einer Scheibe frischen Brotes. Beim Hantieren in der Küche fielen mir Gläser mit
eingemachten Kürbisstücken in die Hände, die mich wiederum an den Keller und seine unheilvollen Regale erinnerten - also karrte ich, kaum dass ich das herrliche Stück Fleisch zu Ende gegessen hatte,
auch diese letzten Erinnerungen an eine fünfundzwanzigjährige Tyrannei aus dem Haus, brachte sie zum Totmannbach, wo ich sie in die tiefe, schmale Schlucht stürzen ließ - auf Nimmerwiedersehen,
Kürbisbrut! Mit dem „Dr. Bader“ wollte ich mir eigentlich in den nächsten Wochen den Hintern abwischen, aber ich ließ es nach dem ersten, unangenehmen Versuch wieder sein und begnügte mich mit einer
rituellen Verbrennung auf dem Feuerplatz hinter dem Haus.
Und nachdem dann die alten Möbel an wohltätige Organisationen verschenkt, die alten Tapeten abgerissen und alle Zimmer neu tapeziert und gestrichen waren, ging es mir endlich besser. Sicher, irgendwo
im Städtchen wuchsen noch Kürbisse, aber ich vermied bei meinen Spaziergängen die Gärten, wo sie in aufdringlichem Gelb und Orange prangten und rankten. Und ich war glücklich.
Dann fingen sie an, Halloween zu feiern. Irgendwer setzte eines Tages den ersten Kürbis auf seine Veranda, ließ ihn grinsen und in die Dunkelheit leuchten. Von da an war die siegreiche Rückkehr
meiner Feinde in mein Leben nicht mehr aufzuhalten. Regelmäßig ab Mitte Spetember musste ich den Supermarkt meiden, denn das Dekor zum Feiertag, dort angepriesen und verkauft, brachte mich immer
wieder zur Weißglut; ich gewöhnte mir an, mich per Telefon mit allem Nötigen zu versorgen.
Jedoch half all das nichts: den 31. Oktober musste ich Jahr für Jahr erdulden, wenn auch aus der Ferne.
Man könnte meinen, ich sollte mich für diesen Tag in meine Bibliothek zurückziehen, deren Fenster auf den Wald hinausgeht und die mir Regale voller ausgezeichneter Werke zur Verfügung stellt, mich zu
bilden oder abzulenken. Aber mitnichten! Ein unheilvoller Drang, ein dunkler Zug in meinem Wesen, ein Anflug von Selbstquälerei treibt mich jedes Mal in meinen Ohrensessel am Fenster, drückt mir ein
scharfes Fernglas in die Hand und lässt mich hinaussehen.
Und dieser Drang ist - Sehnsucht.
Es ist hier so lange niemand mehr gewesen. Ich habe keine Freunde. Wie viele Kinder, die den Schock über den Tod der Eltern niemals verwinden konnten und die dann von alten, besorgten Leuten
aufgezogen werden, bin ich menschenscheu. Ich muss nicht arbeiten, denn meine Großeltern waren wohlhabend, und ihre sparsame Lebensart, ganz auf Kürbisse gebaut, hat ihr Vermögen eher vergrößert
statt verringert. Ich lese seit meinem sechsten Lebensjahr mit Begeisterung, und ich habe niemals eine Schule besucht. Das Lesen, Schreiben und Rechnen brachte mir Großmutter bei, die einmal Lehrerin
gewesen war; den Rest lernte ich aus Büchern. Meinen Dr. phil. habe ich per Fernkurs gemacht. Eine Monographie über die literarischen Wurzeln und Blüten des Hexenglaubens und ein Band über die dunkle
Phantastik des neunzehnten Jahrhunderts sowie Artikelserien in renommierten Zeitungen bewirken meine völlige Unabhängigkeit - ich käme sogar ohne das Geld meiner Großeltern aus. Ich kannte nie die
Gefühle der Angst, der Verzweiflung und Wut, die einem gleichgültige Lehrer, ein herrschsüchtiger Chef, missgünstige Kollegen vermitteln; ich musste nie einer stumpfsinnigen, entwürdigenden Arbeit
nachgehen, und abgesehen von den Kürbis-Qualen meiner Kindheit verlief mein Leben glücklich.
Aber es ist immer einsam um mich.
Ein Halloween-Hasser meines Formats, sollte man meinen, müsste neben sich eine geladene und entsicherte Schrotflinte zu liegen haben, um einen Warnschuss abzugeben, genau über die maskierten
Kinderköpfe gezielt, noch ehe diese ihr „Süßes oder Saures!” herausposaunen können - nun, neben meinem Sessel steht ein großer Beutel mit Süßigkeiten.
Doch ich warte vergebens. Mein Haus gilt wohl als verrufen, wie es da auf seinem Hügel unter den düsteren Bäumen kauert, traurig, lichtlos, einsam. Und die Kinder dieser Stadt kennen mich nicht -
woher auch?
Da ziehen wieder einige vor das Haus von Thomas Maggert, meinem nächsten Nachbarn. (Heimlich nenne ich ihn Tom, obwohl wir kaum einmal miteinander gesprochen haben.) Eins wummert an Toms Tür. Seine
Frau Claudia öffnet. Ich sehe sie nicht, aber mein Fenster ist offen, und ihr Lachen dringt bis zu mir herauf, dunkel und sinnlich; dann verteilt sie die üblichen Gaben, wohl recht reichlich, die
Bande bricht in ein Freudengeheul aus, und Toms Gartenweg hinunter und zu Toms Gartentor hinaus ziehen ein zufriedener Käpt’n Hook, eine Mumie und Graf Dracula.
Plötzlich stehe ich auf. Ich greife nach dem Beutel voller Süßigkeiten und gehe hinaus. Es ist klar und kalt draußen. Sterne funkeln deutlich hoch da oben, Orion erkenne ich. Aber mir ist nicht kalt.
Ich bin von eiserner Gesundheit, gegen Wind und Wetter nahezu unempfindlich - vielleicht hatte Dr. Bader doch recht?? Egal. Ich steige die vier Holzstufen meiner Veranda hinunter, eile zum Gartentor,
unter meinen Tritten knirscht der Kies - und dann bin ich schon, zum ersten Mal seit vielen Tagen, auf dem Weg, der hinunter zu den anderen Häusern führt. Ich laufe den drei kleinen Gestalten nach
bis auf die Hauptstraße unseres Städtchens.
Fort sind sie. Schade. Doch es gibt andere - ich muss sie nur suchen.
Wie gut, dass es heute nicht regnet. Während ich laufe und mich umsehe, kommt es mir vor, als wäre ich zum ersten Mal seit Jahren, seit Jahrzehnten wieder an der frischen Luft. Ich atme tief ein,
will es in mich aufsaugen, das Gemisch aus herbstlicher Feuchtigkeit und modrigen Blättern, aus dumpfer Erde und Frost und Vergehen - aber erstaunlich, es verschafft mir nicht jenes Gefühl von
Erleichterung, das mir früher zuteil wurde, wenn ich in einer Spätherbstnacht einen Spaziergang machte. Was ist nur los mit mir? Ich habe wohl zu lange Zeit in diesem alten, einsamen Haus verbracht,
abgeschnitten von der lebendigen Welt; mein ganzes Leben abgeschnitten, wie es mir nun scheint.
Die Kinder! Ich muss sie wiederfinden. Ich werde ihnen Süßigkeiten schenken und eine Weile mit ihnen umherziehen, und alles wird wiederkommen, alles, was im Draußen ist, in diesem furchteinflößenden,
lockenden, zermürbenden, großartigen Raum, der da ist, wenn wir unsere Mauern verlassen. Wir können das alles haben - wir müssen nur losgehen. Ein Kürbis grinst mich von einer Veranda her an,
hellgelbes Flackern in den Augen. Ich nicke ihm zu, wie einem alten Freund. Und erspähe, einen Eingang weiter, die drei kleinen Schreckgespenster. Ich weiß nicht, was mich zu ihnen hinzieht - ich
weiß nur: ich muss, ich muss ...
Der kleine Dracula dreht sich zu mir um, hat mich wahrscheinlich aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Sieht mich nun direkt an, bleibt starr stehen, erbleicht. Ich sehe das eigentlich nicht, kann es
gar nicht, denn sein Gesicht ist sorgsam auf Vampir geschminkt - doch seine verkrampfte Haltung, die weit aufgerissenen Augen, der halb geöffnete Mund sagen mir: er erbleicht.
Dann wird die Mumie auf mich aufmerksam. Ich bin in fünf Schritt Entfernung stehen geblieben, fast genau unter einer Straßenlaterne, sie sieht mich gut - und reagiert genau so: Starre, Stille,
Blässe. Diesmal kann ich es deutlich erkennen. Sie trägt grüne Schminke, dunkles Oliv, das langsam zu hellem Oliv wird.
Der Käpt’n Hook verhält sich ganz anders: Er schreit auf, hoch und spitz, und das bricht den Bann über den dreien: Sie rennen weg, hastig, panisch, sie verlieren Süßigkeiten aus ihren Eimern,
Bonbons, Kaugummi, Schokoladenfiguren, und keines bückt sich, sie aufzuheben.
Und ich hasse Halloween wieder aus ganzer Seele. Ein paar Augenblicke lang dachte ich ... Aber was soll’s! So ist es mir immer ergangen, wenn ich versucht habe, in ihre Welt zu kommen - in
die Welt des Lärms, des Trubels, der Sorgen, des Gewühls, der unnützen, oberflächlichen Gespräche - in die Welt der anderen Menschen.
Allein. Ich war immer allein, bin es, bleibe es. Besser so. Das Haus - die Bücher - der Garten - Telefon und Radio mit ihren körperlosen Stimmen. Nichts weiter.
Ich schaue mich um: Auf welchem Weg komme ich am schnellsten zurück nach Hause? Ich könnte auf der Hauptstraße bleiben, aber sie ist mir jetzt zuwider. Andere Kinder werden kommen, mich anstarren,
wegrennen. Nein, nicht die Hauptstraße. Die kleine Gasse da rechts - das müsste sogar eine Abkürzung sein ...
Gerade als ich in sie einbiege, taumelt wer heraus, ein Betrunkener, kaum kleiner als ich und einiges breiter in den Schultern. Strähnige schwarze Haare, zerknittertes Gesicht, halb glasiger, halb
noch wacher Blick. Er prallt fast mit mir zusammen, murmelt „Tschul-jung”, sieht mich einige Augenblicke lang verwundert an, grinst dann breit.
„Ey, Mann - geiles Koschtüm, ey! Schau-schaustark. Ehrlisch!” Was soll das?
Er klopft mir auf die Schulter. Es patscht dumpf, und mir ist, als dringe die schwere Hand bis auf meine Knochen durch. Ich zucke zusammen, will „Au!” oder „Passen Sie doch auf!” oder etwas
dergleichen sagen, aber es kommt kein Ton aus meiner Kehle. Ich will sprechen, öffne den Mund, bewege die Lippen - aber es ist wie verhext, ich kann nicht, ich höre nichts.
Derweilen betrachtet er mich verwundert und etwas nüchterner. „Das - das iss - also, sach ich dir ... Wie has’n das gemacht, eh?” Er starrt auf seine Hand, es klebt etwas daran, das er mit einem
„Äks!” am feuchten Gras zu unseren Füßen abwischt.
Dann starrt er mich wieder an, und plötzlich fällt ihm was ein.
„Zum Gemeindehaus - da vergeb’n se gleich’n Preis fürs beste Koschtüm! Da lang, das schaffste noch!” Er fuchtelt mit seinen feuchten und modrig riechenden Fingern vor meinem Gesicht herum. „Mein
Timmy is auch da - da will’ch ja grade hin. Hat auch ‘n schönes Ding an, so’n Zombiezeugs - aber nischt gegen dich, Alter. Na los, das müss’mer den’n da zeig’n, nu komm schon, komm ...!”
Mit diesen Worten fasst er mich am Arm, will mich wieder der Hauptstraße zudrehen und mich mit der begeisterten Gewalt des Angetrunkenen zur Preisverleihung schleifen.
Aber der Arm geht ab. Kratsch! Er hält ihn plötzlich in der Hand, Oberarm, Elle, Speiche, Hand. Halb blanke Knochen, an denen vermoderte Fleischreste und Stofffetzen kleben. Ich folge seinem
entsetzten und nun ganz nüchternen Blick zu meiner Schulter hin, wo nicht mehr ist, was da sein sollte, sehe dann weiter an mir hinunter und nehme mich zum ersten Mal an diesem Abend richtig
wahr.
Im nächsten Moment, ich kann gerade noch ausweichen, fällt er glatt um, nach vorn, auf die Nase, ohne sich abzustützen. Es hat ihn von den Füßen geholt.
Jetzt weiß ich, warum die Kinder geschrieen haben.
Jetzt weiß ich, warum ich heute nach dem Aufwachen das Gefühl hatte, mich nicht mehr an gestern, an vorgestern, an all die Tage vorher erinnern zu können. Jetzt weiß ich, warum mein Haus so dunkel
und kalt und leer ist und warum ich auf die Straße musste, getrieben von diesem seltsamen Zwang. Es ist Halloween, nicht wahr ...
Ich hasse Halloween.
© by Peter Schünemann, 2015