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Alles für ein Souvenir

 

Verdammt, dachte Gunt, und immer wieder nur: Verdammt, verdammt, verdammt.

Er konnte es nicht fassen, konnte die Pracht, die sich unter dem Gleiter ausbreitete, nicht begreifen. Sie tat den Augen weh mit ihrer Vielgestaltigkeit und Vitalität. Dieser Planet hieß zu recht „Orchidee“, er war eine. Baumriesen, wohin das Auge blickte, und alle entfalteten ihre prächtigen Blütenknospen mit meterlangen Blättern zu einer gigan­ti­schen Sinfonie aus Farben und Formen. Jeder Eindruck, den man aus Botanischen Gär­ten mitgenommen hatte, zerfloß zu Nichts vor diesem einzigartigen Wunder. Wenn Gunt es längere Zeit betrachtet hätte, wäre er wohl wahnsinnig geworden; doch er wollte hier nicht verweilen. Es drängte ihn, zu erledigen, wofür er die Umwege über wenig be­fahrene Raum­trassen und den Bruch des Sperrverbots in Kauf genommen hatte. Nur eine kleine Blüte ‑ und dann weg.

Weit und breit ließ sich kein anderer Gleiter sehen. Gunt schien der einzige Souvenir­jä­ger zu sein, der heute hier ans Werk ging. Um so besser. Er würde in aller Ruhe suchen kön­nen. Geeignete Blüten fanden sich nicht so einfach. Was sich aus den tieferen Schich­ten des undurchdringlichen Dschungels hinauf ans Licht gekämpft hatte, tendierte zur Größe. Und die Schauglocke im Wohnzimmer besaß nicht gerade weiträumige Abmaße. Nein, das Suchen würde der langwierigste Teil seines Ausflugs hierher werden. Und dann be­gann der schwierigste, aber ungleich kürzere.

Gunt verdrängte den Gedanken an die Gefahren. Er beschloß, den Tag zu genießen, öff­nete die Haube des Gleiters und genoß die frische Luft in vollen Zügen. Ein angeneh­mer Hauch von Duft war ihr beigemischt. Wieder bedauerte Gunt, dass Inn nicht hatte mit­kom­men können. Das hätte sie erleben müssen! Vor dieser natürlichen Einfachheit und Selbst­verständlichkeit verblassten die raffiniertesten Kompositionen der Sensitivkünstler zu einem miserablen Abklatsch einer ungeahnt anregenden Wirklichkeit. Die Blüte, so begriff Gunt jetzt, bildete nur die eine Seite der Medaille. Das andere ... aaah! Er atmete tief ein und fühlte sich entspannt wie lange nicht mehr. Die Zeit verstrich, ohne dass er es be­merkte. Ungelesen blieben die Bücher auf dem Sitz neben ihm. Diese Art von Ab­lenkung brauchte er hier nicht.

Als das Signal erklang, schien es Gunt, dass nur wenige Augenblicke, bestenfalls Minu­ten seit seiner Ankunft verstrichen sein könnten. In Wirklichkeit waren es zwei und eine hal­be Stunde. Niemals hätte er auf der Erde oder anderswo, in den Kolonien viel­leicht, den­selben Zeitraum mit Nichtstun ausfüllen können, ohne sich dabei zu Tode zu lang­wei­len und selbst mit dem Gedanken an hundert unerledigte Dinge unruhig zu machen.

Er fühlte sich frisch und ausgeruht, trotz des langen, nervenaufreibenden Transits zur Or­chidee. Tatendurstig schaute er nach unten, dorthin, wo die Sucher eine geeignete Blüte ausfindig gemacht hatten.

Sie besaß genau die richtige Größe. Und sie strahlte in makelloser Schönheit.

Gunt machte den Gleiter für den Sturzflug bereit.

 

M‘Prau wiegte sich leise und zufrieden im Wind und ließ seinem Frohsinn freien Lauf. Ein herrlicher Tag! Keine Wolke verdunkelte das Licht, lebensspendende Fluten glitten vom hohen Himmel herunter, und alle Zellen der oberen Schicht reckten sich ihnen ent­gegen. M‘Prau fieberte der Jagd entgegen. Die unteren Schichten brauchten eine andere Nahrung als Licht, und der Vorrat ging langsam zu Ende. Fangstimmung, Hochstimmung! Das bevorstehende Messen von Kraft und Geschicklichkeit ‑ sei es mit einem Fliegenden Sänger, sei es mit einem nahrhaften Kronenspringer ‑ erfüllte ihn mit Vorfreude. Er war noch jung, hatte sich seinen Platz an der Oberfläche erst vor kurzem erkämpft, wußte noch nichts von Stürmen, Krankheit, Absterben und nahm das Leben mehr als ein Spiel.

Mit seinen vom Jagdtrieb geschärften Sinnen registrierte er eine Bewegung am Him­mel. Ein fernes Objekt, doch es näherte sich ihm schnell. Etwas ganz Besonderes! Ein Ruck ging durch seinen mächtigen Leib, der nun ganz Anspannung wurde, bis in die letzte Sektion hinein. Selbst die trägen unteren Teile vergaßen ihr ewiges Dahingraben und signalisierten ihre Bereitschaft, sich ganz in den Dienst der Jagd zu stellen. Denn eine Beute geriet in Reichweite, wie sie nur höchst selten erjagt wurde.

Für das Entstehen der Tropfenwesen gab es verschiedene Erklärungen, von denen M‘Prau keine ganz schlüssig erschien; doch sie interessierten ihn allesamt nicht. Das Ding nur fangen! Nicht jedem gelang so etwas. Die Tropfen übertrafen die Fliegenden Sänger an Schnelligkeit und die Erdgräber an Kraft. Oft entkamen sie den Fangarmen oder rissen sich im letzten Moment wieder los; und selbst wenn man sie einmal am Boden hatte, kostete es Mühe und Geschick, den sehenswerten organischen Teil aus seiner harten, un­interessanten Hülle zu lösen ‑ so zu lösen, dass er nicht beschädigt wurde, denn dann hielt er sich nur einige Tage frisch.

Ob die Wahl des Tropfenwesens wohl auf ihn fallen würde? M‘Prau fieberte der Ent­scheidung entgegen, die er nicht beeinflussen konnte. Er verschwendete nur einen flüchtigen Gedanken an den kleinen Schmerz, der ihn durchschauern würde, wenn der Gegner sein Ziel erreichen und die Lockkrone plündern würde. Das machte nichts; ohnehin würde das Tropfenwesen nur einen der kleineren Teile mitnehmen. Die großen, entwickelten, nährstoffreichen beachteten diese Himmelsjäger nicht; sie hatten es auf eher winzige Büschel abgesehen, Sh!akan mochte wissen warum. Nein, das Risiko, das M‘Prau einging, erschien minimal. Freilich, einmal sollte ein schon gefangener Tropfen Feuer gespien und seinen Bezwinger schwer verletzt haben; jahrelanges Siechtum und am Ende der Tod sollten die Folgen gewesen sein. Doch daran dachte der junge Jäger jetzt nicht. Er würde schon achtgeben.

Das Wesen erreichte M‘Prau jetzt ‑ und verhielt. Es schien nichts zu bemerken von den schnellen und starken Fangarmen, die schon mit etlichen bösartigen Stachelfliegern fertiggeworden waren. M‘Prau geriet in leichte Erregung: Der Himmelstropfen hatte ihn, tatsächlich ihn auserwählt!

Aber der blütengekrönte Riese bezwang seine Ungeduld und wartete auf den richtigen Moment.

Das war sie! Genau die musste es sein!

Mit angehaltenem Atem betrachtete Gunt die herrliche Blüte unter sich. Nur diese, und keine andere!

Er atmete schwer aus und versuchte sich zu konzentrieren. Nur noch ein paar Augen­blicke, und er würde am Ziel sein. Nur noch auf den Urwald niederstoßen, die Blüte aus der genau berechneten und exakt geflogenen Kurve heraus mit den Manipulatoren packen, ohne sie zu beschädigen, Schubkraft geben und das Gefährt sofort wieder hoch­reißen ‑ sonst würden die Lianen kommen und ihn in das Dunkel unter der Blüten­ober­fläche hinabzuziehen trachten, und dann konnte es sein, dass auch die verzweifeltsten An­stren­gungen nicht...

Gunt wusste, dass schon etliche Souvenirjäger nicht zurückgekehrt waren. Einmal hatte er, unter unwahrscheinlichen Sicherheitsvorkehrungen, sogar einen Amateurfilm von einem Kampf Fluggleiter gegen Lianen sehen können. Der Gefährte des ‑ am Ende ver­schwun­denen ‑ Jägers hatte ihn gemacht, ehe er in panischem Entsetzen zurückgeflogen war. Derartige Kämpfe entbrannten nicht selten, und die Zahl der Opfer musste längst drei­stellig sein. Was mit ihnen geschah, nachdem die Blätterwogen über ihnen zusam­men­ge­schlagen waren, wußte niemand zu sagen. Wenn die Fahrzeuge nicht ungesehen explo­dier­ten, würden ihre Piloten wohl über kurz oder lang dem Leben, das es am Boden zwei­fel­los gab, zum Opfer gefallen sein. Vielleicht fand sich dort unten ja nicht einmal Wasser. Sicherlich, es müßte ‑ bei dieser urwüchsigen Pflanzenpracht ‑ eigentlich Wasser geben; aber noch nie hatte eine Expedition den Boden von Orchidee betreten. Das Sperrverbot der Behörden galt auch für Wissenschaftler. Es war weniger aus Gründen des Natur­schutzes als vielmehr aus Sicherheitsüberlegungen heraus entstanden, nachdem ein ganzer Touristenkreuzer über Orchidee verschollen war.

Egal! Gunt galt nicht umsonst als exzellenter Pilot. Er musste hinunter, und er würde auch wieder hinaufkommen.

Seine Hände betätigten die Tastatur, ohne zu zittern, er berechnete die Anflugkurve nach allen Regeln der Kunst, bezog selbst den leichten Wind aus Südost mit ein. Dann reckte Gunt sich noch einmal, brachte seinen Atem unter Kontrolle, legte die Hände aufs Steuerpult ‑ und stieß hinunter, elegant wie ein Raubvogel. Er visierte die Blüte an. Schon befand er sich unmittelbar vor ihr. Jetzt!

Es mochte sein, dass er geschrien hatte. Die Spannung entlud sich. Die Manipulatoren schossen hervor, packten zu, vollführten ihr Werk. Und nun ‑ hoch!

„Hoch!“ schrie Gunt, schrie es wütend und verzweifelt. „Rauf, du Aas!“

Es nützte nichts. Das Triebwerk heulte hoch auf, erreichte die Grenze der Belastbarkeit ‑ und schaltete sich dann ab, um den Menschen im Gleiter nicht zu gefährden. Die Lianen hielten, sie umklammerten den Gleiter mit urtümlicher Kraft, und Gunt fragte sich, wieso um alles in der Welt er sie nicht einmal zuschlagen gesehen hatte, wieso ...

Dann riss der Baum die Maschine hinein ins grüne Halbdunkel. Gunt begriff, dass es aus war. Die Erkenntnis raubte ihm das Bewußtsein.

 

M‘Prau hatte gesiegt! Befriedigt registrierte er die anerkennenden Gedankenwellen, die ihn von allen Seiten her erreichten. Eine gute Jagd! Vergessen der Schmerz in den Fang­armen, deren schwächster verletzt worden war. Das würde heilen, kein Gedanke daran!

Jetzt musste nur noch der wichtigste Teil ‑ der organische ‑ aus seiner harten Hülle be­freit werden. M‘Prau hoffte, dass von diesem kostbaren Stück nicht nur Brei übriggeblieben wäre, wie in einigen Fällen, von denen er gehört hatte. Erst ein unbeschädigtes Exemplar würde die Bemühungen krönen. Doch bis er im Besitz der begehrten Beute sein würde, gab es noch einiges zu tun.

Er wiegte sich im Takt des chch’ma ... Er hatte gesiegt ... er, das überlegene Wesen ... es gab keinen Widerstand ... konnte keinen geben ... nicht gegen den Herrn und Meister ... dessen Kräfte nun langsam geballt wurden, einzudringen in die letzte Bastion, zu nehmen das letzte Hindernis ... Kommt, Kräfte des Geistes, Fluten des stärkeren Be­wußt­seins ... chch‘ma, chch’ma ...

 

Natürlich funktionierte der Computer des Gleiters noch. Die Landung am Boden war äußerst weich verlaufen, die Lianen hatten das große Gewicht vorsichtig getragen und die Maschine sorgsam aufgesetzt.

Aber die Maschine konnte sich allein nicht gegen die Signale wehren, die in ihre Pro­gram­me eindrangen und eines nach dem anderen aufhoben. Verzweifelt aktivierte sie den Medkomplex, um den Piloten wiederzubeleben; aber schon war es auch dafür zu spät, schon entschwanden unter dem Druck des fremden Bewußtseins selbst die einfachsten Grund­informationen dem elektronischen Gehirn. Und Gunt rührte sich nicht.

Die Maschine kämpfte allein, doch sie befand sich auf verlorenem Posten. Sie tat, was sie konnte, um den Menschen zu schützen. Erst ganz zuletzt, als das Fremde gesiegt hatte, gab sie die Sicherungen der Kabine auf.

Das Verdeck des Gleiters öffnete sich.

 

Wieder blieb M‘Prau Sieger. Er spürte, wie der Widerstand des anderen Bewußtseins zusammenbrach. Ein starker, schneller, aber merkwürdig unflexibler Gegner, der sich nur verteidigen konnte, nur reagiert hatte. Was sollte es ... Vorbei.

Und dann flutete ein Strom der Freude durch alle Zellen des Baumriesen. Das Wesen im Inneren der harten Schale war unbeschädigt! Momentan schien es zu schlafen, doch es ließ sich keine Verletzung erkennen. Nun, also gut! Die Reglosigkeit, die wohl vorübergehen würde, nützte dem Sieger nur. Lianen fanden keinen Widerstand, als sie den schlaffen, weichen Körper aus seinem Gehäuse hievten.

Für kurze Zeit durchfluteten M‘Prau seltsame, man hätte fast sagen können, intelligente Informationen. Ein Wesen, das entfernt der Beute glich, nur ein wenig anders gebaut war. Ein Zimmer mit einer Kuppel darin. Und die Gier nach der Lockkrone. Merkwürdig. Aber was sollte es? Darüber mochte nachdenken, wer wollte. Das hier war M‘Praus Beute, und er gab sie nicht wieder her! Das Exemplar schien gesund zu sein, eine zweite Unter­su­chung bestätigte diesen Eindruck. Schon bald würde es seinen vorübergehenden Schlaf beenden ‑ zu spät allerdings, um noch zu entkommen.

M‘Prau verstaute seine Beute vorsichtig in einer seiner unteren Kammern, groß und mit weichem tschaschlmch ausgepolstert. Hier ließ es sich leben! Die Wandhäute veränderte er so, dass sie nur diejenigen Teile der Luft durchließen, die dem Wesen angenehm waren. Mochte der Himmel wissen, in welcher Enklave sie so einen merkwürdigen Geschmack ausgebildet hatten! Vielleicht stimmte die Theorie, nach der sie zu einer aussterbenden Art gehörten, deren Wurzeln in Zeiten zurückreichten, als die Atmosphäre der Welt noch eine andere war. Nun, wie gesagt, das war nicht M‘Praus Sache ‑ ihm reichte der Fang.

Zufrieden betrachtete er seine Beute. Das Wesen zuckte mehrmals zusammen, seine Lider flatterten. Es schien zu erwachen. Nahrung stand schon bereit. In dieser Höhle konnte es viele, viele Jahre leben ...

Stolz übertrug M‘Prau per Gedankenbild allen Vielheiten, die ihn kannten, wie sein neues Schmuckstück langsam wieder zu sich kam. Mitunter spürte er eine Spur von Neid in den Rückantworten. Nun, das schien nur natürlich ‑ wenige nur gab es, die so jung wie er waren und bereits so etwas Auserlesenes besaßen!

 

(veröffentlicht 2002 in "Styx", © by Peter Schünemann, Halle)