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Samen
Wendland saß gerade auf seiner Terrasse, tief in Grübeleien versunken, als die seltsame alte Frau ihn ansprach.
Natürlich war die Terrasse keine richtige Terrasse. Ja, sie sah aus wie die Terrassen von früher, mit rotbraunen Bodenfliesen, einem durchbrochenen Mäuerchen, das sie zur Straße hin abgrenzte, und
mit Blumenkästen auf diesem Mäuerchen; aber in Wendlands Augen fehlten ihr zu einer richtigen Terrasse Blumen in den Kästen - und außerdem eine Wiese jenseits der Straße, die sich weit hingezogen
hätte, am besten bis zu einem kleinen See. Jenseits der Straße jedoch gab es nur Ödland, und hinter diesem türmten sich die Halden der städtischen Deponie, Berge von Müll und Schutt. Natürlich waren
sie von einem Schutzfeld umgeben, das – genau wie das Schutzfeld um Wendlands Terrasse – weder Gerüche noch schädliche Dämpfe noch Ungeziefer durchließ; dennoch glaubte Wendland manchmal, vor allem
wie jetzt, bei Nordwind, den Müllgestank zu riechen, einen Geruch aus Schimmel, Säure und Verwesung. Das machte die Terrasse nicht schöner. Doch sie war der einzige Ort, an dem Wendland ungestört
seinen Gedanken nachhängen konnte.
Carita, seine Frau, kam kaum einmal hier heraus. Als sie ihn geheiratet hatte, gehörten Haus und Terrasse ihm schon, seine Familie besaß das Grundstück seit mehr als zweihundert Jahren. Das Haus
mochte Carita natürlich; im Zeitalter ressourceneffizienter Wohntürme, in denen es sehr eng zuging, stellte ein quasi vorzeitliches Haus für nur eine einzige Familie einen beneidenswerten Besitz dar.
Doch die Terrasse mied sie - sie verabscheute den Blick auf das Ödland und die Müllhalde. Als Wendlands Großvater ein kleiner Junge gewesen war, hatte es vor dem Haus wirklich noch eine große Wiese
gegeben, mit hohem grünem Gras, Löwenzahn, Klatschmohn und Kornblumen. Wendland für sein Teil wäre schon glücklich gewesen, in seinen leeren Blumenkästen ein paar Halme sprießen zu sehen. Doch das
würde er nie erleben. Jahrelang hatte er alle möglichen Samen ausgesät, aber kein einziger keimte. Nirgendwo auf der Erde gingen noch Samen auf, außer denen der Nutzpflanzen, die unter
Hydroponikkuppeln ein streng überwachtes Dasein fristeten.
Trotzdem zog es ihn immer wieder auf die Terrasse, besonders wenn der Haussegen schief hing. Heute hatten Carita und er wieder einmal Streit gehabt – wegen Allia, ihrer Tochter, genauer: wegen Allias
„Lesesucht“, wie Carita es nannte. Wendland hatte Allias Partei ergriffen, obwohl er Streit nicht mochte. Nachdem alles gesagt war, hatte er sich hierher geflüchtet, zu seinen leeren Blumenkästen und
den Träumen von blühenden Wiesen. Er vermochte sich diese Dinge klar vorzustellen und fand wenigstens für eine Weile darin den Trost, den er jetzt brauchte.
Darum ärgerte Wendland sich ein wenig, als plötzlich die extravagant gekleidete alte, hm, Dame? auftauchte - und ihn auch noch ansprach. Das Schutzfeld ließ keine Gerüche durch, Geräusche aber
schon.
„Das könnte hier ein wenig belebter aussehen, glaube ich“, sagte die alte Frau und zog mit der rechten Hand einen Halbkreis, der Wendlands Terrasse einschloss und dazu ihn selbst, was ihn noch mehr
ärgerte.
Vielleicht ist sie leicht plemplem, dachte er. Schon wie sie angezogen ist!
„Ein bisschen grüner“, setzte die Alte ungeniert hinzu, Wendlands Stirnrunzeln nicht beachtend."
„Ach ja? Und wie soll das gehen?“, fragte er patzig zurück. Im Grunde war Correlius Wendland ein höflicher Mann, der niemanden unnötig vor den Kopf stieß und lieber einsteckte als austeilte. Aber das
unverhoffte Erscheinen der Frau hatte ihn aus seinen tröstlichen Gedanken gerissen und sogar ein wenig erschreckt. Woher war sie gekommen? Von links, aus der Stadt, oder von rechts, aus dem nächsten
Agrarkomplex? Sie schien weder dahin noch dorthin zu gehören. Und wieso hatte er sie nicht gesehen? Die Straße war jetzt, am Samstagnachmittag, doch immer völlig leer; warum war ihm ihr Näherkommen
entgangen? Und zu all dem rührten die Worte der Alten zielsicher an die offene Wunde, die jeder Besuch auf seiner Terrasse in ihm aufriss. Ein bisschen grüner!
Die Frau zuckte die Schultern. „Wie so was eben geht. Man sät Samen aus und wartet ab. Keine große Sache.“
Keine große Sache – ha ha! Ja, sie war ganz sicher geistig verwirrt. Schon ihre Kleidung! Ein eng anliegender, silbrig schimmernder Overall, dessen Reißverschluss ein ganzes Stück
heruntergezogen war, so dass man außer ihrem faltigen Hals auch die Kerbe zwischen ihren Brüsten und sogar deren Ansatz sehen konnte, verstörend lässig, wie Wendland fand, was auch an den dunklen
Altersflecken auf der Haut der Alten lag. Dennoch wirkte die Frau erstaunlich gesund, beweglich und robust, wie sie so da stand, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und Wendland mit fröhlichem Spott
ansah. Ihre hellen blauen Augen funkelten; sie wirkten lebendig und jung und widersprachen entschieden dem Grau ihrer langen Haare wie auch den vielen Falten und Fältchen, die ihr Gesicht
zerfurchten. Wie alt sie wohl sein mochte, achtzig, neunzig? Wendland hatte noch nie einen so alten Menschen gesehen. Heutzutage starben die meisten Leute früher. Schade, dass die hier komplett irre
war. Nein, man konnte ihr wohl nicht böse sein, bei diesen vielen Jahren …
Wendland Ärger verflog, er saß ohnehin nie tief. „Ich hab es ja versucht“, erwiderte er mit einem kleinen Seufzer. „Hab jahrelang teuren Samen gekauft, Premium-A-Qualität, Gras, Löwenzahn,
Gänseblümchen und so, alles, was anspruchslos und robust sein soll. Meine Frau hat nicht nur einmal geknurrt deswegen; wir hätten uns statt dessen einen Urlaub unter der Antalya- oder der
Malediven-Kuppel leisten können. Aber ich wollte das machen, weil … weil …“ Ja, warum eigentlich? Und was ging das diese Alte überhaupt an? Aber sie blickte ihm so auffordernd ins Gesicht, dass er
nach den richtigen Worten suchte. „Weil ich es gern sehen würde, wie es früher war“, sagte er leise. „Wie es aussah, als mein Opa noch klein war; wie er mir beschrieben hat.“ Er schluckte schwer.
„Und …“, einen Moment zögerte er: sollte er wirklich …? doch dann redete er entschlossen weiter, „weil ich es gern für meine Tochter haben würde. Allia, wissen Sie … Sie ist zehn, und sie … sie malt
… Wiesen.“ Das kam verschämt heraus.
„Und? Was ist daran schlimm?“, fragte die Alte leichthin. Sie lächelte Wendland aufmunternd zu; freilich wirkte es auch ein wenig ironisch, denn sie hob dabei die rechte Augenbraue, auf eine Weise,
die ihm vage vertraut vorkam. Die Helden im TriVi schauten manchmal so überlegen drein, ja, das war es wohl.
„Na, das passt eben nicht in diese Zeit ...“, antwortete er mit unsicherer Stimme. „Man soll doch im Hier und Jetzt leben. Akzeptieren, was nicht mehr zu heilen ist. Oder?“ Ich höre mich furchtbar
an, dachte er. Sich abfinden? Mit dem, was die Früheren uns hinterlassen haben - also mit einer kaputten Erde, mit gigantischen Müllhalden und mit Grau unter einem grauen Himmel? Gut, dank der
technischen Innovationen der letzten Jahrzehnte wurde es nicht schlimmer; zwei Milliarden Menschen gab es auf der Welt, und alle lebten ganz akzeptabel. Aber es wurde auch nicht besser.
„Mir fehlt das Gras. Das Blau am Himmel. Seen, in denen man schwimmen kann. Ich kenne das alles nicht, aber es fehlt mir“, hörte Wendland sich plötzlich zu seiner eigenen Verwunderung sagen.
„Akzeptieren ist Mist. Aber es bleibt einem ja nichts anderes übrig. Und wenn Allia vielleicht einmal ein eigenes Kind hat, wird es immer noch so sein.“ Die Handbewegung, mit der er die leeren
Blumenkästen, das öde Land, die Müllhalden und den grauen Himmel einschloss, hatte etwas Wegwerfendes, Resigniertes.
Die Alte sah ihn einen Moment lang nachdenklich an, dann sagte sie: „Sie lieben Ihre Tochter, nicht wahr?“
„Na ja … Ja“, stammelte Wendland. „Ich meine, sie wird unser einziges Kind bleiben …“ Das hatte die Weltregierung streng geregelt: ein Kind pro Familie, genau nach Bedarf, auch was das Geschlecht
betraf. Vermutlich lief irgendwo in diesem Land oder auf dieser Welt schon Wendlands Schwiegersohn umher, Allias zukünftiger Mann. In seinen düsteren Stunden dachte er manchmal: Sie ist genau so ein
Kunstprodukt wie alles andere ums, das Wasser und der Sauerstoff und die ganzen Dinge … doch wenn er sie dann sah, wie sie in ihrem Zimmer bäuchlings auf dem Bett lag, die Nase in ihre
unvermeidlichen Bücher gesteckt, alte Bücher aus echtem Papier, die sie auf dem Dachboden ausgekramt hatte, manche hatten schon Wendlands Urgroßvater gehört – dann liebte er sie um so mehr: für
den Ernst, mit dem sie las, was heutzutage längst als überholt galt, Märchen und Fantasyromane und vor allem diese komische Science-Fiction. Manchmal sah Wendland seiner Tochter beim Lesen über die
Schulter und wusste nicht, ob er über manche Spinnereien den Kopf schütteln oder schmunzeln sollte. Zukunft? Blühende Erde? Menschheit im All?
Nein, es nützte nichts, man musste sich mit den Dingen eben doch abfinden. Im Hier und Jetzt für die Späteren leben – nicht verschwenden, recyceln – wissen, nicht glauben! So lautete die offizielle
Philosophie, so dachte Wendland, so dachte auch Carita, seine Frau … und nur, wenn er Allia lesen oder zeichnen sah, wenn er mit ihr abends beisammen saß und ihr beschrieb, wie es sein könnte, im
Freien über Gras zu laufen oder in einem See zu schwimmen, dann vergaß er es. Darum ließ er Allia zeichnen, darum verteidigte er ihr Recht, diese komischen Bücher zu lesen.
Und darum, gestand er sich ein, saß er Tag für Tag auf seiner Terrasse.
Jetzt lächelte die alte Frau zufrieden, ohne jeden Spott. Hatte er etwa laut gedacht? Sicher; manchmal ging es einfach mit ihm durch. Wendland wurde ein wenig rot, aber wie sie so dastand und ihn
freundlich anschaute, schien sie plötzlich eine alte, sehr vertraute Bekannte zu sein; irgendwie erinnerte sie ihn an seine Mutter, die vor Jahren gestorben war.
„Das haben Sie schön gesagt“, stellte sie fest. Dann öffnete sie die Tasche, die sie an der Hüfte trug, fasste hinein, holte ein paar kleine braune Kügelchen heraus. „Hier, bitte. Ich möchte Ihnen
das schenken.“ Zu Wendlands Überraschung schob sie ihre Hand durch das Schutzfeld, als sei es gar nicht vorhanden - sie hätte sich daran verbrennen müssen, aber nur ein paar blaue Flämmchen tanzten
kurz auf ihrem Overall und erloschen sofort wieder. „Das ist Samen vom Aldebaran“, sagte sie und zwinkerte Wendland zu. „Genauer gesagt, von einem seiner Planeten, Ald-4 in unserer nüchternen
Sprache. Seine Bewohner nennen ihn Suuis’k, das heißt so viel wie Lebendes Es. Sie haben das, was wir durchmachen, schon lange hinter sich: Industrialisierung, Massenkonsum, verwüstete Erde,
und in ihren Legenden singen sie davon, wie Uml’a, die großartige Genetikerin und Poetin, Blumen züchtete, die allem Schmutz und Gift in der Luft, im Boden und im Wasser widerstehen konnten; Blumen,
die Suuis’k wieder in den grünen Garten verwandelten, der er einmal war.“ Langsam ließ sie die Kügelchen in Wendlands ausgestreckte Rechte rieseln. „Ein bisschen Erde, etwas Wasser, mehr brauchen sie
nicht.“ Sie kniff das linke Auge zu, eine verschwörerische Geste, die Wendland diesmal so vertraut war, dass er zusammenzuckte. TriVi? Nein, bestimmt nicht …
„Das ist doch alles nur eine Geschichte?“, sagte er und starrte auf die unscheinbaren Kügelchen in seiner Hand. „Eine schöne Geschichte, aber doch bloß ausgedacht, oder?“ Denn wie wollte diese Frau
nach Aldebaran gelangt sein? Raumschiffe flogen nur zur Mondstation, um die kleine Schar Wissenschaftler dort zu versorgen. Zum Mars und zur Venus könnte man gelangen, doch wozu? Öde, tote Welten,
auf denen Kälte oder Hitze, gigantische Stürme und tödliche Strahlung Leben fast unmöglich machten - dafür musste man keine Ressourcen verschwenden. Auch um den Etat für den Mond stritt man in der UN
jedes Jahr hitzig.
„Nur eine Geschichte?“, antwortete die alte Frau mit amüsiertem Lächeln, „Aber die Wissenschaft hat versagt, wie man sieht.“ Sie ahmte Wendlands Gestevon vorhin nach, doch bei ihr sah es
weder wegwerfend noch resigniert aus. „Vielleicht helfen uns ja die Geschichten weiter?“ Abermals ein fröhliches, verschwörerisches Zwinkern, ein Nicken zum Abschied, dann drehte sie sich um und ging
davon, quer über das öde Land, geradewegs auf die Müllhalde zu, mit leichten, federnden Schritten; und immer wieder holte sie kleine braune Kügelchen aus ihrer Tasche, die sie mit vollen Händen
verstreute. Nach einer Weile drehte sie sich um, winkte Wendland zu, schrie: „Nur ein bisschen Regen!“ und lachte laut. Dann schien es, als hebe sie vom Boden ab und flöge in den Sonnenuntergang, der
die Halde in Düsterrot tauchte. Doch nein, Wendland narrten wohl die Sinne: Die Alte war auf die Halde gestiegen - und wenn ihr Overall sie nicht gut schützte, würde sie nicht mehr viele Tage erleben
…
Doch mehr als ihr jähes Verschwinden beschäftigte ihn, was sie zum Schluss gesagt hatte. Regen! Natürlich, den würde es geben, aber wie immer würde er sauer sein und ihre Blumen - oder
was sie da auch immer ausgesät hatte – schon im Samen töten! Sie war wohl doch komplett verrückt – Aldebaran, Suuis’k, Uml’a und das alles. Unfug!
Kopfschüttelnd stand er auf seiner Terrasse und schaute zur Halde hinüber. Woher die Frau wohl gekommen war? Vielleicht war ihr Overall eine Art Anstaltskleidung für geistig Verwirrte … Ob man die
Sicherheitsleute benachrichtigen sollte? Aber sie war ja ganz freundlich und harmlos gewesen … Eine schwierige Sache. Am besten, man erzählte niemandem davon, nicht einmal Carita. Obwohl – Allia
würde die Geschichte gefallen …
Verstrickt in solche Gedanken bemerkte Wendland erst einige Zeit später, dass seine Hände leer und erdverkrustet waren. Wie - hatte er die merkwürdigen Kügelchen wirklich in seine Blumenkästen
gesteckt? Offenbar war er wirklich ein so hoffnungsloser Fall, wie Carita manchmal meinte, wenn sie sich aufregte. Ja, bestimmt; dann kam es sowieso nicht mehr darauf an, dass er jetzt auch noch
seine Gießkanne holte und den Samen – vom Aldebaran, lächerlich! – das Wasser gab, das er selbst gern getrunken hätte, denn er verspürte nach der ungewöhnlichen Unterhaltung plötzlich Durst. Aber da
half nichts, das Wasser war rationiert: entweder er oder die Pflanzen. Also die Pflanzen … Er konnte das verrückte Spiel ruhig ein wenig mitspielen, es hatte ihm irgendwie gefallen – und vielleicht,
vielleicht …
Wissen, nicht glauben!, ermahnte Wendland sich, während er die letzten Tropfen sorgsam verteilte, dann seine Finger an einem Tuch abwischte und ins Haus ging.
Als er Allia an diesem Abend ins Bett brachte, spielten sie ihr übliches Spiel: Vorlesen? Nein, sie schüttelte den Kopf; lesen konnte sie ja selbst. Über den TriVi-Film reden, den sie nach dem
Abendbrot gesehen hatten? Auch nicht. Etwas singen? Nein. Allia zappelte in gespieltem Ärger über die gespielte Begriffsstutzigkeit ihres Vaters: Natürlich wollte sie eine Geschichte hören, eine
selbst ausgedachte, und wie stets gab Wendland am Ende nach. Nur war die Geschichte heute nicht ganz und gar seiner Erfindung entsprungen, denn er erzählte seiner Tochter, wie unter dem Licht der
Sonne Aldebaran auf dem Planeten Suuis’k eine kluge Frau, Gelehrte und Poetin zugleich, unverwüstliche Blumen züchtete …
„Die würde ich gern sehen, Papa“, sagte Allia, schon mit einem kleinen Gähnen in der Stimme; eine Minute später war sie fest eingeschlafen. Wendland rückte ihr die Decke zurecht. Beim Hinausgehen
fiel sein Blick auf das Buch, das sie gerade las: „Planet der Habenichtse“. Offenbar ein Science-Fiction-Roman, vielleicht nicht gerade das, was man bei einer Zehnjährigen erwartete, aber anscheinend
kam Allia damit zurecht, sonst hätte sie ihn längst mit Fragen gelöchert. Habenichtse, dachte Wendland traurig – ja, das sind wir …
Doch später im Bett, als er noch wach lag und auf Caritas leises Schnaufen lauschte, erschien ihm dieser Gedanke nicht richtig. Er hatte eine Frau, eine gute Arbeit, ein Haus mit einer Terrasse, und
er hatte Allia. Mehr als genug ... was fehlte, waren die Blumen, das Gras … und wenn die nun auch … Darüber schlief er ein. Den Regen, der nach zwei Uhr in mächtigen Schauern auf Haus und Ödland und
Halden niederstürzte, hörte er nicht.
Am nächsten Morgen lief er voller Erwartung auf die Terrasse - doch natürlich war alles wie immer. Nichts blühte in den Blumenkästen. Von
grauem Nebel verhangen und dunkel lag jenseits der Straße das Ödland. Ja, es hatte geregnet, aber dieser Regen brachte keine Heilung für das verseuchte Land, man konnte sich ihm nur aussetzen, wenn
man einen Schutzanzug trug … Die Alte war wirklich verrückt gewesen, Wendland hatte es gleich gewusst.
Aber das stimmte nicht: Er hatte gar nichts gewusst, sondern geglaubt, nein, gehofft, sie könnte Recht behalten, so seltsam ihre Geschichte auch war. Und nun starrte er enttäuscht auf die tote Erde,
aus der nie etwas wachsen würde, jedenfalls nicht, so lange er lebte oder Allia. Gras und Blumen, Sträucher und Bäume gehörten einer versunkenen Epoche an, daran würde kein Wundersamen von woher auch
immer etwas ändern.
„Papa, was ist das?“, hörte Wendland plötzlich eine leise Stimme. Allia. Gefangen in seiner Enttäuschung hatte er sie nicht kommen hören. Sie stand am anderen Ende der Terrasse, barfuß und im
Nachthemd, fror in der kühlen Morgenluft, rieb mit den Händen ihre Oberarme und trappelte mit den Füßen, um sich zu wärmen - aber dabei ließ sie ein Fleckchen Blumenerde vor ihr nicht aus den Augen,
ein Fleckchen, auf dem etwas sehr merkwürdig aussah ... Wendland ging zu seiner Tochter, beugte sich mit ihr über den Kasten und betrachtete mit weit aufgerissenen Augen die zarte grüne Spitze, die
sich da ans Licht reckte. Dabei hielt er sogar den Atem an, als könne der dem winzigen Trieb schaden …
In diesen Augenblicken voll Anspannung, Unglauben und Staunen geschah etwas völlig Unfassbares: Ein Ruck ging durch das Gewächs, ließ es um ein paar Zentimeter wachsen, und an seiner Spitze bildete
sich eine ovale Kapsel, die sich auf einmal öffnete und ein paar gelbe Blütenblätter ins Licht der irdischen Sonne entließ.
Wendland begann zu weinen.
„Was hast du, Papa?“, fragte Allia; sie hatte ihren Vater noch nie weinen sehen. „Das ist doch eine Blume, wie die, von denen du erzählt hast, vom Aldebaran, oder? Und dann stimmt auch alles andere,
nicht wahr? Alles wird wieder blühen …“ Sie lachte, hüpfte fröhlich auf der Terrasse hin und her, ihre blauen Augen strahlten. Plötzlich kniff sie das linke zusammen und zwinkerte Wendland
verschwörerisch zu. „Du hast es gewusst, nicht wahr, Papa?“
Er hatte es nicht gewusst; er hatte ja nicht einmal gesehen, was überdeutlich war. Einen Moment erschrak er über sich selbst: Wie sehr hatte sein Blick sich verengt in all den Jahren? Aber sofort
wurde ihm das vollkommen gleichgültig angesichts dessen, das um ihn herum geschah: Trieb um Trieb, Blüte um Blüte durchbrach das Schwarz und Grau der Erde, schon nicht mehr nur in seinen Kästen,
sondern auch draußen auf dem Ödland, überall. Ein Wunder … nein, zwei, dachte Wendland, während er staunend all das Grün und Bunt und dann wieder seine Tochter anblickte. Jetzt hätte er die alte Frau
vieles fragen mögen, aber er würde sie natürlich nicht mehr wiedersehen, natürlich nicht; und es genügte ja auch, ihr einmal begegnet zu sein. Zwei Wunder: das war mehr als genug für ein Leben.
„Ich hole Mama“, sagte er zu seiner Tochter und lachte dabei über das ganze Gesicht. „Na, die wird vielleicht Augen machen!“
Ó by Peter Schünemann, Halle, 2017, veröffentlicht in: Neuer Stern, Nr. 32, Halle/Saale